Mit The Shepherd’s Crown (dt. Die Krone des Schäfers) wurde posthum Terry Pratchetts letzter Scheibenwelt-Roman veröffentlicht. Wir nehmen das zum Anlass, einen Blick auf die gesamte Reihe zu werfen – und auf die Person dahinter, den Mann mit dem Hut.
Für die Uneingeweihten sei kurz umrissen, worum es sich bei der Scheibenwelt überhaupt handelt: Auf dem Rücken von Groß A’Tuin, einer durch den Weltraum schwimmenden Riesenschildkröte, stehen vier Elefanten. Auf deren Rücken finden wir die Scheibenwelt – eine auf den ersten Blick mittelalterlich angehauchte Fantasy-Welt voller eigentümlicher Gestalten. Was zunächst wie ein bewusst bizarres Szenario für eine Fantasy-Parodie erschien, entwickelte sich über 41 Romane (und diverse Spin-Offs) zur wohl epischsten Satire unserer eigenen Welt.
Es gibt kaum ein Thema, dass Pratchett in seinen Romanen nicht angerissen hat. Da gibt es z.B. die Stadtwache der Großstadt Ankh-Morpork, deren Kommandant Samual Vimes (dt. Samual Mumm) sich nach der Reform der nutzlosen Stadtwache mit allen möglichen Problemen von häuslicher Gewalt über Rassismus bis hin zu Diktaturen beschäftigen muss. Da wären Geschichten, die sich um den Tod selbst drehen (bei Pratchett eine „anthropomorphe Personifikation“), der mit Sense und Skelettpferd die Scheibenwelt besucht – sowohl um deren Bewohner auf die letzte Reise mitzunehmen, als auch um uns besser zu verstehen. Oder auch der Band Going Postal (dt. Ab die Post), der es schafft, aus der Wiedereröffnung von Ankh-Morporks Postamt eine spannende Geschichte zu machen – nicht zuletzt, da die Abermillionen nicht ausgelieferten Briefe mittlerweile ein Eigenleben entwickelt haben. Oder wie wäre es mit einer Macbeth-Parodie? Oder einem Roman über das Zeitungswesen? Außerdem haben wir noch Geschichten über Hexen, Magier, Fussballteams, Mönche, Werwölfe, Banker, Rockbands…
Wenn der vorangegangene Absatz eher bizarr erscheint, liegt das daran, dass die Scheibenwelt-Romane eine dieser Sachen sind, bei denen es sehr schwer fällt, jemandem zu erklären, „warum das denn so toll ist“. Inhaltlich vielseitig bis zur Unübersichtlichkeit besteht der eigentliche Charme der Reihe letztlich vor allem darin, dass Pratchett in weltweit einzigartiger Art und Weise die Satire mit spannenden Geschichten und liebenswerten, vielschichtigen Charakteren verwebt und so ein in sich logisches, abstruses Universum schafft. Humor und Wortwitz weisen ihn natürlich als Verwandten ur-britischer Humoristen wie Douglas Adams und Monty Python aus, aber seine Werke zeigen oft eine Düsternis unter der Oberfläche, die schnell klar macht: Bei aller Leichtigkeit und allem Irrsinn – dieser Mann mit dem komischen Hut und dem Lachen unter dem Bart hatte und hat uns etwas zu sagen.
Das bringt uns zur Protagonistin von „The Shepherd’s Crown“ – Tiffany Aching (dt. Tiffany Weh). Tiffany trat zuerst als Neunjährige im Band „The Wee Free Men“ (dt. „Kleine freie Männer“) auf. Sie lebt im Chalk (dt. „Kreideland“) und ist besonders talentiert darin, Käse zu machen. Zu ihren mehr oder weniger willkommenen Allierten zählt der Clan der Nac Mac Feegle (dt. „Wir-sind-die-Größten!“), kleiner, blauer, betrunkener, prügelnder, Schottenrock-tragender Fabelwesen, die man bloß nicht als Feen bezeichnen sollte, wenn man seine Finger behalten will. Oh, und sie ist eine Hexe.
Hexen gab es in der Scheibenwelt auch schon länger, sie spielten sogar in einigen Romanen die Hauptrolle: Granny Weatherwax (dt. Oma Wetterwachs) und Nanny Ogg haben gemeinsam schon einiges überstanden, als sie letztlich die neunjährige Tiffany unter ihre Fittiche nehmen müssen – was bei Hexen so viel bedeutet wie ihr zu sagen, das sie sich gefälligst um ihren eigenen Mist kümmern muss. Tiffany schlägt sich also in den insgesamt vier vorangegangenen Bänden mit gewalttätigen Feenköniginnen, bewusstseinskontrollierenden Schwarmintelligenzen, verliebten, anthropomorphen Personifikationen des Winters sowie Hexenjägern herum und regelt das alles auch ganz ordentlich. Auch der aktuelle Band bietet wieder eine spannende Geschichte, aber auf die soll an dieser Stelle gar nicht weiter eingegangen werden.
Die Geschichten um Tiffany Aching beleuchten nämlich abseits der Rahmenhandlung insbesondere einen Teil des Hexendaseins: Wenngleich viele die Frauen in den spitzen Hüten etwas unheimlich finden, so sind es doch die Hexen, die man ruft, wenn ein Kind, Rind oder Schwein entbunden oder ein alter Mann durch seine letzte Nacht gebracht werden müssen. Hexen kümmern sich um das, was sonst keiner tun will. Sie sorgen dafür, dass die alte Dame regelmäßig etwas Warmes zu essen bekommt, dass die junge Braut vor der Hochzeit über wichtige biologische Details informiert wird, dass dem etwas müffelnden älteren Herren die Fußnägel geschnitten werden, und noch vieles mehr. Warum sie das tun? Weil es jemand tun muss.
Die junge Tiffany wird neben den übernatürlichen Gefahren der Rahmenhandlung also auch mit den düsteren Aspekten der Realität konfrontiert. Auch der Tod, der als Protagonist schon einige Male in abstrahierter Form in der Reihe aufgetaucht ist, wird in den zugigen Bauernhäusern des Chalk zu einer bedrückenden Realität, mit der Tiffany sich auseinandersetzen muss. So ist es wenig verwunderlich, dass in diesen Szenen Terry Pratchett selbst besonders deutlich hörbar wird: Der an einer frühen Form von Alzheimer erkrankte und verstorbene Autor hat sich seit seiner Diagnose intensiv mit dem Sterben und dessen Würde auseinandergesetzt und sich z.B. auch im Bereich der Sterbehilfe engagiert.
Zwar lässt er Tiffany niemanden aktiv zum Tod führen, aber die Idee eines würdevollen Todes als Teil eines erfüllten Lebens greift er an mehreren Stellen der Reihe auf: Tiffanys Hexenfähigkeiten umfassen beispielsweise das „Wegnehmen von Schmerz“, was letztlich an moderne Palliativmedizin erinnert. Begräbnisse und Trauer werden ebenfalls mehrfach thematisiert – oft im Sinne einer positiven Trauerbewältigung statt des melodramatischen Wehklagens. So bringt die erfahrene Hexe Nanny Ogg in einem Band eine Trauergesellschaft dazu, sich durch gemeinsames Singen und Tanzen auf den Tischen positiv des Verstorbenen zu erinnern.
Die Tiffany Aching Romane scheinen daher durchaus Pratchetts persönlichste Werke zu sein – auch wenn in jedem Band der Reihe und auch seinen anderen Werken natürlich unendlich viel Herzblut steckt: Neil Gaiman, langjähriger Weggefährte des Autors, schrieb einmal, dass Pratchett nicht bloß der „witzige ältere Herr“ ist, für den ihn viele halten. Sein größter Antrieb sei seine Wut – auf die Welt, auf sich selbst, und in den letzten Jahren auch auf diejenigen, die ihm einen würdevollen Tod verwehren wollten. Sein gesamtes Werk ist, nicht erst seit seiner Diagnose, durchzogen von den grundsätzlichen Fragen nach dem „Richtig“ und dem „Falsch“ und allen Nuancen dazwischen: Auch in einer Fantasiewelt gibt es für ihn keine „magischen“ Lösungen ohne moralische Ambivalenz, es gibt keine Patentrezepte, keine unfehlbaren Helden, sondern nur Menschen, die ihr Bestes geben. Auch Tiffany gibt ihr Bestes, und ist eine Figur voller Wut auf die gewalttätige und herzlose Dummheit ihrer Mitmenschen, für die sie sich dennoch weiter aufopfert, ohne zu klagen.
„Als hätte er es gewusst“ werden viele denken, wenn gleich zu Anfang von „The Shepherds Crown“ eine lange, lange bekannte Figur der Scheibenwelt-Reihe verstirbt – und zwar mit einer Einstellung zum Unausweichlichen, die man nur als Spiegelbild von Pratchetts eigenen Ansichten verstehen kann. So wird der letzte Band der Scheibenwelt-Reihe dann auch zu einem Abschiedsbrief, der vor allen Dingen eines in den Gedanken zurück lässt: Das Leben geht weiter, erinnert euch an Terry Pratchett, und denkt darüber nach, was er euch sagen wollte.
Foto: Wikimedia Commons
The Shepherd’s Crown ist am 27. August bei Random House erschienen. Die Deutsche Fassung, Die Krone des Schäfers, gibt es ab dem 9. November für EUR 17,99 vom Verlag Manhatten und als eBook.
Wer die komplette Tiffany Aching Reihe lesen möchte (was relativ gut außerhalb der gesamten Scheibenwelt-Reihe funktioniert), sollte das in dieser Reihenfolge tun: 1) The Wee Free Man (Kleine freie Männer), 2) A Hatful of Sky (Ein Hut voller Sterne), 3) Wintersmith (Der Winterschmied), 4) I shall wear Midnight (Das Mitternachtskleid), 5) The Shepherd’s Crown (Die Krone des Schäfers).
Außerhalb der Scheinbenwelt sei außerdem noch der Pratchetts Roman Nation (Eine Insel) empfohlen. Eine Sammlung von nicht-fiktionalen Texten und Transkripten ist ebenfalls erschienen: A Slip of the Keyboard (Corgi, 2015, Taschenbuch)