Menschen, die über das Wetter reden, haben nichts Interessantes zu sagen…
David Lynch ist vor allem durch seine albtraumhaften Filme bekannt. Als Maler, Musiker und bildender Künstler hat er sich in den letzten vier Jahrzehnten außerdem als wahrer Allrounder erwiesen. Daher hätten wohl die Wenigsten von uns erwartet, dass Lynch im Jahr 2020 YouTuber wird.
Was ist das Thema in den Videos des Surrealisten? Das schöne Wetter. Das ist umso verwirrender, da Lynchs Filme – z.B. Eraserhead (1977), Lost Highway (1997), Mulholland Drive (2001) – in die Abgründe der menschlichen Psyche blicken. Die schöne, heile Welt hat Lynch bisher immer als Illusion entlarvt und deren Schattenseiten offenbart – v.a. in Blue Velvet (1986) und Twin Peaks (1989-1990, 2017).
Seine Videos erscheinen dagegen völlig ironiefrei. Die Wetterberichte laufen fast immer gleich ab: Begrüßung, Datum, Blick aus dem Fenster, Temperatur, Prognose für den Rest des Tages, Verabschiedung. Und das jeden Tag. Seit Monaten. Warum macht er das? Liegt in dem Immergleichen, in der scheinbaren Sinnfreiheit vielleicht eine Dekonstruktion?
Seine Serie Twin Peaks parodierte in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren die Handlungselemente und Ästhetik von Seifenopern. Lynch machte sich einerseits über sie lustig und verkehrte sie andererseits ins Düstere und Abgründige. Dasselbe findet sich in Blue Velvet mit der idyllischen Vorstadtideologie und in Mulholland Drive mit dem Idealbild von Hollywood als Traumfabrik. Seine Wetterberichte können in diesem Sinne als eine Reflexion auf die Unmengen an Vlogs, Schminktutorials, „Let’s Plays“ und anderem YouTube-Content gelesen werden. Statt vorzugeben, etwas Wichtiges zu zeigen, macht er die Sinnfreiheit überdeutlich und spricht über das Wetter.
Vielleicht überrascht uns David Lynch aber damit, dass er die ganze Sache völlig ernst nimmt. In einem Q&A-Video auf seinem YouTube-Kanal wurde er gefragt, warum er Wetterberichte aufnehme. Seine Antwort:
„People are very interested in weather and it does something to people’s awareness to learn about temperature and the look of the sky and the sun. It’s just something I think that human beings like and I thought it might be interesting to give a weather report of what was going on in terms of weather in Los Angeles.“
Wenn wir dieser Begründung Glauben schenken, befindet sich hinter Schöpfer zahlreicher albtraumhafter Visionen kein pessimistischer oder deprimierter Eigenbrötler. Lynch, der seit Jahrzehnten „Transzendentale Meditation“ praktiziert und bewirbt, zeigt sich hier als Optimist, der Menschen gerade in Zeiten der COVID-19-Pandemie Hoffnung und positive Gefühle vermitteln möchte.
Diese positive und progressive Grundeinstellung zeigt er auch in den Wetterberichten, mal subtiler und mal offensichtlicher. So sitzt er am 03.06.20 vor einem selbstgemalten Black Lives Matter-Schild, nachdem er am Vortag, dem Blackout-Tuesday nicht im Video anwesend war und so auf die Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern aufmerksam machte. In den letzten Wochen (August und September 2020) trägt er in jedem Video eine Sonnenbrille. Seine Begründung: „I’m wearing dark glasses today because I’m seeing the future and it’s looking very bright.“ Lynchs Hoffnung auf einen Wahlsieg Joe Bidens bei der Präsidentschaftswahl im November? In der Summe seiner Videos scheint dies wahrscheinlich.
Da seine Wetterberichte immer dieselbe Struktur haben, sind kleine Unterschiede bereits Highlights. Manchmal erzählt er uns von einem Traum oder von seinen Gedanken, die ihn an diesem Tag beschäftigen. So berichtet er am D-Day von einem Traum, in dem er als junger deutscher Soldat in der Normandie erschossen worden sei. Gelegentlich sendet er auch Geburtstagsgrüße, z.B. an seine Ex-Frau Isabella Rosselini und an Paul McCartney.
Und genau in der Hoffnung auf diese Details, einem skurrilen Kommentar des Meisterregisseurs oder einem visuellen Detail (Ist das Video nebelig-weiß, blau gefiltert oder normal?) liegt der besondere Reiz seiner täglichen Videos. Wie denn nun das Wetter in Los Angeles ist, interessiert mich gar nicht. Ich höre an diesen Stellen eigentlich kaum zu, freue mich dann aber trotzdem über seine Standardformel, wenn er uns „Blue Skies and Golden Sunshine“ verheißt.
Und ganz abgesehen von den Inhalten seiner Videos ist der Aspekt der Teilhabe, die virtuelle Nähe zu dem Idol, auch hier nicht unbedeutend. Lynch ist mittlerweile 74 Jahre alt und es wird zunehmend unwahrscheinlich, dass er noch einmal ein großes filmisches Werk veröffentlichen wird – was tragisch ist, da seine 3. Staffel von Twin Peaks aus dem Jahr 2017 das für mich beste filmische Werk der 2010er Jahre ist. Wie schön ist es aber, dass man durch seine Videos täglich erfährt, dass es dem älteren Herrn gut geht, dass er in seiner Werkstatt bastelt, seinen dampfenden Kaffee genießt und sich am Sonnenschein erfreut.
Neben den Wetterberichten veröffentlicht Lynch auf seinem YouTube-Kanal alte Kurzfilme, Heimwerkervideos (Ein Holzwaschbecken mit ausklappbarem Urinal! Eine Anleitung zum Hosenlöcher stopfen!!) und seit August seine tägliche Zahlenlotterie, bei der Lynch die Zahl des Tages zieht. Was man mit diesen Zahlen anfangen soll, ist jedem selbst überlassen. Jedenfalls sehnt seine Fangemeinde sehnlichst einer 7 entgegen, die bisher immer ausblieb.
Ob die Welt ein kleines bisschen besser ist, wenn Lynch eines Tages die 7 zieht? Wer weiß… Eins ist sicher: an diesem Tag erwarten uns auf jedenfall
„BLUE SKIES AND GOLDEN SUNSHINE!“
Und genau für dafür schaue ich David Lynchs Wetterberichte.