Assassin’s Creed Syndicate – Ubisoft macht mal was richtig!?

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Jacob Frye beim „Leap of Faith“ vom Big Ben. Kein Spoiler: Auch wenn die serienbekannten Heuwagen diesmal mit Laubhaufen ersetzt wurden bricht sich bei dieser Nummer nach wie vor niemand etwas.

Die Assassin’s Creed Reihe hat mittlerweile unzählige Sequels und Spin-Offs, und eigentlich hatte ich das Franchise spätestens nach dem eher durchwachsenen Teil 3 (mit Spin-Offs: Teil 5) aufgegeben. Den habe ich sowieso nur noch gespielt, um als zwanghafter Komplettierer den Abschluss der zusammenhängenden Trilogie noch zu erleben. Der erste Teil für die PS4, Assassin’s Creed Unity, von mir erst kürzlich gespielt, hat mich dann in meiner Entscheidung bestärkt – und das obwohl die hanebüchenen Bugs mittlerweile größtenteils beseitigt waren.

Warum ich dann jetzt doch mein hartverdientes Geld für den frisch erschienenen neuesten Teil Assassin’s Creed Syndicate ausgegeben habe? Lest selbst!

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Evie Frye in vollem Einsatz gegen eine von den Templern kontrollierte Gang  (die Blighters, in Rot), unterstützt von einem Mitglied der eigenen Gang (den Rooks) in Grün.

Vorweg die für ein Assassin’s Creed Spiel verpflichtende Standard-Kritik: Ja, es ist wieder mal ein Sequel, ja, es ist ein Aufguss von Altbekanntem, nein, es gibt spielerisch wenig Neues, ja, die Spieleindustrie braucht mehr Innovationen, etc. pp. Mal ganz davon abgesehen, das auch Sequels durchaus mal um ihrer selbst willen bewertet werden können, gibt es im Prinzip also „gewohnte Kost“: Meucheln in einer wirren Tempelritter-vs.-Assassinen-Story, wunderschön in Szene gesetzt vor detailverliebter Kulisse, gewürzt mit zahlreichen semi-authentischen historischen Ereignissen und Figuren. Soviel war von vornherein klar, und auch dass die Geschichte im viktorianischen London spielt, hat mich zwar geringfügig mehr interessiert als die letzten Settings, aber das alleine hätte mir noch kein Geld aus der Tasche gezogen.

Dann trudelten erste ganz brauchbar klingende Bewertungen ein – nach diversen, zu vernachlässigenden Spin-Offs und dem schrecklich verhunzten Unity sollte Syndicate mal wieder ganz gut sein! Wirklich hellhörig wurde ich, als Anita Sarkeesian das Spiel besprach (s.u.) und ausgerechnet die Geschlechterdarstellung lobte. Wer die Vorgänger kennt, weiß, das Frauen bislang eher dekorativ waren (mit einer Ausnahme in einem Handheld-Spin-Off). Ich wurde neugierig – hatte sich da etwa einer dieser seelenlosen Industrie-Gigangen etwas getraut?


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Ubisofts Team hat sich sichtlich Mühe gegeben, herrlich normale und glaubwürdige Figuren zu schaffen, was vor allem dadurch sichtbar wird, das deren Geschlecht eben nicht permanent hervorgehoben wird: Die beiden spielbaren Hauptfiguren Evie Frye und ihr Bruder Jacob sind zwar völlig unterschiedliche Charaktere, aber das hat nichts mit ihrem Geschlecht zu tun sondern schlicht mit unterschiedlichen Einstellungen zur Assassinen-Tätigkeit (Frontalangriff vs. Planung ist Alles, wobei das nur ein Angebot ist und letzten Endes dem Spieler überlassen wird). Die Frye-Zwillinge und auch die meisten weiteren Figuren beiderlei Geschlechts (einschließlich des transgender Diebes Ned Wynert) werden dadurch definiert, was sie tun, und nicht durch ihre Genitalien. Frauen begegnen uns als Bösewichtinnen, Helferinnen und Zugführerinnen, und sogar für einen indisch-stämmigen Assassinen ist im Ensemble Platz. Im Kampf gegen die Templer-Bedrohung sind alle gleich.

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Evie auf einer Doppeldecker-Kutsche vor bekannter Kulisse.

So einfach kann Inklusivität in Videospielen aussehen. Nach dem mittleren Shitstorm um das Fehlen einer weiblichen Spielfigur im Multiplayer von Unity (samt nicht zufriedenstellender „technischer“ Begründungen) ist dies eine angenehme Kehrtwende. Während der ersten Spielstunden habe ich immer wieder geschmunzelt und mich ehrlich darüber gefreut, mich auch mal mit weiblichen Wachposten zu prügeln: Im viktorianischen London braucht es keine Frauenquote mehr, es wird gemeinsam gemetzelt! Das mag für den ein oder anderen „unrealistisch“ sein, aber ist das wirklich relevant? Ich schließe mich Anita Sarkeesian an: Auch aus meiner Sicht überwiegen die Vorteile einer größeren Zahl weiblicher Identifikationsfiguren, um noch mehr Frauen an die Controller zu locken und die Vorhandenen ernst zu nehmen, gegenüber etwaiger historischer „Ungenauigkeiten“.

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Heutzutage sieht es in London deutlich anders aus, doch wie immer haben es die Entwickler geschafft, die Straßenzüge glaubhaft nachzubilden und Wiedererkennungswerte zu schaffen.

Es hat sich aber auch sonst einiges getan: Die Farbpalette wirkt insgesamt kräftig und lässt ein relativ kompaktes London in Glanz und Dreck erstrahlen – kein Vergleich zum Pastell-Nebel und den end- und leblosen Straßenzügen im Paris von Unity. Die Missionen sind ausreichend abwechslungsreich, auch wenn, wie üblich, schier unendliche (optionale) Sammel- und sonstige Fleißaufgaben warten. Die Handlung ist von einer spürbaren Unbeschwertheit geprägt und „historische“ Nebenfiguren wie Charles Darwin, Alexander Graham Bell und Charles Dickens sind nicht nur Stichwortgeber, sondern amüsante Zeitgenossen mit klaren Charakterzügen. Syndicate tut mit dem ganzen Drumherum aus den bisherigen Teilen mit Templern, uralten Artefakten usw. genau das richtige: Man nimmt es nicht zu wichtig und die Figuren nicht zu ernst. Außerdem: Pferdekutschen-Hijacking! Hauptquartier in einem fahrenden Zug! Schnurrbart-zwirbelnde Superbösewichte!

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Evie im Gespräch mit der Zugführerin des rollenden Hauptquartiers.

Defizite gibt es natürlich auch: Kleinere Bugs, die den Spielfluss aber nicht nennenswert stören, oder auch das, nach wie vor eher mäßig präzise, Bewegungs- und Kampfsystem (wobei Ersteres durch einen Batman-esquen Enterhaken aufgewertet wird und Letzteres immerhin genauer ist als je zuvor). Sarkeesian nennt auch richtigerweise grundsätzliche thematische Probleme mit der Umsetzung des historischen Stoffs (Industrialisierung, Kinderarbeit), aber damit kann ich leben. Assassin’s Creed Syndicate macht mir letztendlich einfach wieder Spaß und es wurde an den meisten Stellen sinnvoll und zeitgemäß zuende gedacht. Ein Triple-A Sequel gone right.

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Wer möchte, kann stundenlang aus dem langsam rollenden Zug starren und London an sich vorbei ziehen lassen – auch die schmutzigen Viertel, deren Ruß und Dreck die industrielle Revolution antreibt.

Assassin’s Creed Syndicate von Ubisoft ist erhältlich für PlayStation 4 und Xbox One.

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