Selten war die Frage, wer das Rennen um den „grauen Pöppel“ des Kennerspiels des Jahres machen wird, so spannend wie in diesem Jahr. Wir haben uns die drei Kandidaten genau angeschaut.
Die Nominationen dieses Jahr verbinden Gegensätze: Innovation gegen Altbewährtes, Narrative Elemente gegen komplexe Spielmechanismen. Das ist im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung neuer Brettspiele besonders interessant. Doch was steckt hinter den nominierten Spielen Pandemic Legacy Season 1, Time Stories und Isle of Skye?
Selten war ein „Kennerspiel des Jahres“-Jahrgang so kontrovers und innovativ wie in diesem Jahr. Ich erkläre euch hier, was an diesem Jahrgang so spannend ist und warum ihr diese Spiele unbedingt für den nächsten Spieleabend in Erwägung ziehen solltet.
Zerstöre dein Brettspiel: Pandemic Legacy Season 1
Pandemic Legacy Season 1 basiert auf Pandemie, für das schon ein paar Erweiterungen erschienen sind. Dabei unterscheidet sich Pandemic Legacy ganz klar von seinen Vorgänger.
Pandemic Legacy Season 1 wird von Partie zu Partie nachhaltig verändert. Karten werden zerrissen, das Spielfeld wird verändert, geheime Briefe geöffnet, Aktionen der Spieler haben Auswirkungen auf das Spielgeschehen und Entscheidungen nehmen Einfluss auf den Weitergang der Geschichte im Spiel. Ein Vorreiter dieses Spielprinzips ist Risiko: Evolution. Dieses war allerdings konfrontativ, Pandemic Legacy Season 1 ist wie das Standard-Pandemic kooperativ.
Aber worin steckt der Reiz, das Spiel durch sein Spielen unspielbar zu machen? Ich wage zu behaupten, dass das Erlebnis, in eine Geschichte einzutauchen, gerade nur durch ein Element möglich ist: Die Einmaligkeit. Eine Serie, einen Film und ein Buch kann man quasi auch nur einmal erleben. Klar, man sieht sich auch eine Serie bzw. einen Film nach einiger Zeit nochmal an oder liest auch ein Buch mehrere Male um andere Facetten zu entdecken. Doch die eigentliche Geschichte erlebt man dennoch nur einmal richtig. Wie sollte man nun diese Einmaligkeit in einem Brettspiel darstellen?
Meiner Meinung nach gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die eine ist das Legacy-Prinzip. Bei dieser wird auch das Material nachhaltig verändert, um die Geschichte entsprechend weiter zu entwickeln. Welchen Sinn hätte es, im Spielgeschehen durch eine Entscheidung plötzlich eine Stadt wie Paris durch einen Virus zu verlieren und diese dennoch weiterhin auf dem Spielbrett zu sehen? Da ist es doch viel authentischer die Stadt auch auf dem Spielfeld auszulöschen.
Der Reiz des zerstörten Spielmaterials
Durch das Legacy-Prinzip fühlt sich die ganze Geschichte echter an, weil das Spielmaterial sich mit verändert oder zerstört wird.
Hat man in Pandemic Legacy Season 1 gemeinsam heroisch die schlimmste Zeit der Menschheitsgeschichte überstanden, die Krankheiten ausgerottet und die Menschheit gerettet (bestenfalls so und nicht andersherum), blickt man auf eine gemeinsam erlebte Geschichte zurück, beweint zerstörtes Spielmaterial und hängt sich vielleicht das verwüstete Spielfeld zur Erinnerung an die Wand — denn spielbar ist es nach den mindestens 12, maximal 24 Partien nicht mehr. Ein Spiel wie eine Serie, in der jede Folge neue Erkenntnisse bringt, geliebte Charaktere vielleicht sterben, Misserfolge erst kürzlich erlebte Erfolge nichtig wirken lassen. Ein Spiel, das die Spieler in eine Geschichte eintauchen lässt und mehr noch sogar: Ein Spiel, das den Spieler die Möglichkeit gibt, mit seinen Entscheidungen die Geschichte zu formen, zu entwickeln. Ein Spiel, welches wirkliche Emotionen hervorruft und in Erinnerung bleibt. Das ist auf jeden Fall Innovation.
Das Spoiler-Prinzip in Time Stories
Ein Prinzip was bisher nur Serien, Büchern, Filmen oder Videospielen eine wichtige Rolle beim Erleben einer Geschichte vorbehalten war, ist das Konzept der Spoiler. Mit Time Stories wird die Unkenntnis über eine Geschichte zu einem wichtigen Teil des Spielprinzips. Spoiler können das Spielerlebnis zerstören, bei Pandemic Legacy Season 1 ebenso wie bei Time Stories. Die Geschichte lässt sich nur einmal erleben. Bei Pandemic Legacy Season 1 ist nach maximal 24 Partien Schluss, Time Stories bietet wiederum ein Modul für einmal spielbare Szenarien. Im Hauptspiel, welches zum Kennerspiel des Jahres nominiert wurde, befindet sich eben dieses Modul und das erste Szenario.
Die Spieler verkörpern in Time Stories Mitglieder der T.I.M.E (Tachyon Insertion in Major Events) Agency und reisen durch die Zeit, um Zeitrisse zu verhindern und Mysterien aufzuklären. Hierbei schlüpfen die Spieler in die Körper von sogenannten Wirten, die sich an dem Ort und der Zeit des möglichen Zeitrisses befinden und, ähnlich wie bei Rollenspielen, diverse Fähigkeiten mitbringen.
Die Spieler lösen gemeinsam Rätsel, untersuchen Orte in Form der sogenannten Deckploration, der Erkundung des Kartendecks. Diese funktioniert folgendermaßen: Ein Schauplatz wird in Form eines Panoramabildes aus Karten hingelegt. Anhand von Aktionen können nun die einzelnen Karten aufgedeckt werden. Darauf entdeckt man Personen, Gegenstände, Situationen oder ähnliches. Diese helfen meistens, Rätsel zu lösen — oder sie werfen weitere Rätsel auf. Hin und wieder bringen diese die Spieler sogar in gefährliche Situationen bei denen Geschick oder Kraft nötig sind. Durch das Meistern dieser Rätsel versuchen die Spieler dadurch besagte Zeitrisse zu verhindern.
Natürlich ist Zeit Geld und deswegen haben die Spieler pro Durchgang immer nur begrenzt Zeit das Rätsel zu lösen. Alles kostet dabei Zeit. Aktionen durchführen, von Schauplatz zu Schauplatz reisen, manchmal kosten auch nicht bestandene Fähigkeitsproben Zeit. Alle Szenarien werden hierbei immer mit den Basisregeln des Hauptspiels gespielt, wobei je nach Szenario auch neue Regeln dazu kommen können. Das klingt kompliziert, der Einstieg ins Spiel ist allerdings sehr einfach und innerhalb weniger Minuten erklärt.
Von Fall zu Fall – Die Szenarien von Time Stories
Die einzelnen Szenarien sind thematisch immer anders. Im Hauptspiel befindet sich das Szenario „Nervenheilanstalt“, welches in einem Pariser Sanatorium der 1920er Jahre angesiedelt ist. Der „Marcy Fall“ spielt in einer amerikanischen Kleinstadt im Jahr 1992 wo eine mysteriöse Seuche umher geht. Die „Drachen-Prophezeiung“ bewegt sich in einem alternativen Fantasy-Mittelalter (ja, auch alternative Welten sind möglich) und bei „Hinter der Maske“ reisen die Spieler ins Tal der Könige im alten Ägypten.
Ein neuer Fall namens „Operation: Endurance“ wird September dieses Jahres erscheinen und spielt zu Beginn des ersten Weltkrieges in der Antarktis. Darüber hinaus gibt es ein Modul auf der Homepage der Space Cowboys, mit dem Fans eigene Szenarien erschaffen können. Leider aktuell nur in englischer oder französischer Sprache. Das Spiel bietet durch eine aktive Community quasi unendliche Möglichkeiten.
Hier kommt jetzt das Spoiler-Prinzip ins Spiel um die Einmaligkeit in einem Spiel darzustellen zu können. Die Szenarien beinhalten Rätsel und ein großes Mysterium. Diese müssen gelöst werden um den Zeitriss zu verhindern. Hat man diese einmal gelöst und ist der Verlauf des jeweiligen Szenarios bekannt, ist die erneute Spielbarkeit des Szenarios praktisch nicht mehr gegeben. Ähnlich wie ein Buch oder ein Film kann es theoretisch nach einiger Zeit nochmal gespielt werden, allerdings sollte die Auflösung des Szenarios bis dahin vergessen worden sein. Das Besondere von Time Stories im Vergleich zu Pandemic Legacy Season 1 ist somit, dass nur die Szenarien ein „Ablaufdatum“ haben — das Basisspiel als Modul für viele folgende Szenarien jedoch nicht. Es ist einmalig und doch wieder spielbar. Das Spielerlebnis selbst erinnert an Adventures wie „Edna bricht aus“ oder vergleichbare Spiele.
Altbewährtes in Isle of Skye
Das dritte Spiel welches als Kennerspiel des Jahres nominiert wurde, ist Isle of Skye, welches eher in der Richtung Altbewährtes geht. Es ist ein Legespiel wie Carcassonne und bietet darüber hinaus einen cleveren Auktionsmechanismus. Thematisch ist es im alten Schottland angesiedelt. Die Spieler versuchen ihr Gebiet gewinnbringend zu erweitern und geschickt zu handeln, um am Ende König von Schottland zu werden. Also kurz gesagt: Es geht um Siegpunkte.
Isle of Skye bietet nicht unbedingt ein innovatives Spielerlebnis wie die anderen Nominierten, aber es verknüpft zwei beliebte Spielmechanismen so, dass ein sehr rundes und taktisches Spiel entstanden ist. Altbekannte Mechanismen in einem neuen Gewand sozusagen.
Schaut man sich die Kennerspiele der letzten Jahre an, ist Isle of Skye einfach das typische Kennerspiel. Die nächste Stufe nach Spiel des Jahres von der Komplexität her, verzahnte Mechanismen, eine nicht allzu lange Spieldauer (ca. 60 Minuten), thematisch schön verpacktes Siegpunktgerangel , schöne Grafik und kurze Regeln.
Abschließend stellt sich die Frage, welches Spiel die Jury am 18. Juli zum Kennerspiel des Jahres küren wird.
Was meint ihr dazu? Lasst uns an euren Gedanken zu den nominierten Spielen in den Kommentaren teilhaben oder erzählt uns einfach von eurem letzten Brettspiel welches ihr ausprobiert habt. Wir freuen uns über jeden Beitrag!
Bilder: Désirée Rath.